Dissidenten &Jil Jilala

Tanger Sessions

EXIL 91674-2 / LC 08972/ VÖ: 17.10.2008 / DISTRIBUTION: INDIGO

1. Akaaboune’s Homage (Klein/Josch/Müllrich/Ouazza/Asbihani/Kasbaji) 7’27” This is the world – not your country
2. Morock’n Roll (Klein/Josch/Müllrich/Asbihani/Kasbaji) 5’26” God gave you something better than magic – brain
3. Gun Factory (Klein/Josch/Müllrich/Asbihani/Kasbaji) 6’50” Heart you missed it - time is a wolf – that’s why there are wars
4. Fata Morgana “Tangier Version” (Klein/Josch/Müllrich/Lamrani) 9’31” The eagle sits in the cage – while the chicken are watching TV
5. Song 4 A Rainbow (Klein/Josch/Müllrich/Lamrani) 7’19” Make wars history
6. Truth Is The Only Religion (Klein/Josch/Müllrich/Asbihani/Kasbaji) 8’15” Nothing ever changes – except gods and fashions
7. The World Is A Mirror (Klein/Josch/Müllrich/Lamrani) 7’25“ Show yourself in it - and it will reflect your image
8. Morock’n’Roll Part II “Kasbah Version” 3’12“ (Klein/Josch/Müllrich/Asbihani/Kasbaji) Who can’t dance complains: „The floor is uneven!“

Sahara Elektrik und die Folgen

1983 - eine zunächst unscheinbare Jahreszahl, wenn man die bewegte Popmusikgeschichte betrachtet. Inmitten der Post-Wave-Wehen und des New Romantic-Pops, des Aufbegehrens von Ghetto-HipHop und des Zusammenfalls der Neuen Deutschen Welle machte sich eher verzagte Resignation breit. Vom Rande Afrikas jedoch sprang der Zündfunke für einen neuen Trend nach Europa. Denn 1983 wurde die Sahara elektrisiert. Drei globetrottende Musiker verlegten ihren Wohnsitz von Bangalore nach Tanger und richteten dort ihr Studio ein. Nach einer jahrelangen Tauchfahrt durch die Tiefen der südindischen Musik, dokumentiert auf ihrem bezwingenden Debüt Germanistan von 1981, trafen Marlon Klein, Friedo Josch und Uve Müllrich alias DISSIDENTEN in der marokkanischen Mittelmeer-Metropole auf den Zeitgeist Nordafrikas, um schließlich mit den Mitstreitern von Lem Chaheb ein bahnbrechendes Werk zu offenbaren: Sahara Elektrik sollte ihre weltweite Popularität besiegeln.

„Dieses Album“, schrieb 2007 der renommierte spanische Journalist José Manuel López, „ist die Bibel und der Koran der Weltmusik und veränderte den Kurs der zeitgenössischen Popmusik. Erstmals wurden hier Musiktypen aus zwei verschiedenen Kulturen verschmolzen, ohne dass eine die andere dominierte. Es war ein progressiver Ansatz, da die innovativsten Elemente der Rockmusik auf die kosmopolitischsten Facetten des Maghrebs trafen.“ Sahara Elektrik wurde zum Manifest gegen die eurozentrische Musiksprache und ihr Song „Fata Morgana“ eroberte die Charts von Rio bis Barcelona, die Bühnen von New York über Glastonbury bis Roskilde. Heute wird das Werk im Musikexpress-Buch Made In Germany – die hundert besten deutschen Platten auf Platz 38 geführt. Und 1984 schrieb der englische Journalist Andy Hurt: „Es ist hart für uns Briten, die wir immer glauben, im Bereich der musikalischen Trends führend zu sein, dass uns mit den Dissidenten nun jemand den Rang abgelaufen hat.“

”One World” -Eine Welt?

2008 – ein Vierteljahrhundert ist seit diesen elektrisierenden Tagen ins Land gegangen. In diesen zweieinhalb Dekaden haben Musiker - nicht zuletzt durch die Initialzündung aus der marokkanischen Hafenstadt Mitte der 1980er - Segel gesetzt, sind in jede nur denkbare Himmelsrichtung aufgebrochen, haben sich von anderen Kulturen befruchten lassen und diese befruchtet. Die DISSIDENTEN selbst haben sich mit ihren weiteren Alben stets mit neuen Impulsen im musikalischen Logbuch des Planeten verewigt. Doch es wurde ihnen zunehmend bewusster: So selbstverständlich die Verschmelzung verschiedenster Traditionen im Zeitalter des Internet geworden ist, so gebeutelt zeigen sich die dahinterstehenden multikulturellen Träume früherer Jahre. Ein medial erzeugter “Kampf der Kulturen” scheint sich an die Stelle inter- kulturellen Dialogs zu setzen. Der im Tonstudio praktizierten „einen Welt“ steht eine zerstückelte Landkarte der Ideologien gegenüber.

25 Jahre nach ihrem Welterfolg Sahara Elektrik melden sich die DISSIDENTEN deshalb erneut mit einem wegweisenden Ruf aus dem Herzen des Maghreb. Dieser reagiert auf die veränderte Welt mit ihren neuen Kriegen in überraschender Härte: Mit geschichteten E-Gitarren, krachigen Drums, archaischen Chören, pumpenden Bässen, hypnotischer Drehleier und psychedelischer Flöte katapultieren sich Klein, Josch und Müllrich in eine sehr wirklichkeitsnahe Sphäre, jenseits ausgeträumter Ideale von Multikulti-Musik. Wiederum heißt der Schau- und Hörplatz Tanger, die Weggefährten sind erneut Helden der arabischen Rockmusik.

Jil Jilala

Zusammen mit den marokkanischen Gruppen Nass el Ghiwane und Lem Chaheb bilden Jil Jilala mit den Urgesteinen Abdelkrim El Kasbaji und Moulay Tahar El Asbihani das legendäre Triumvirat der populären nord- afrikanischen Musik. Ihre Texte inspirieren geflügelte Worte und Graffitis, ihre Lieder sind nationales Kulturgut, jedes Kind kann sie mitsingen. Gegründet in den frühen 70ern, entwickelten sich Jil Jilala rasch zu einem wirkungsmächtigen Sprachrohr ihrer Generation. Geprägt von einer Mélange aus französischer Nouvelle Vague, Film Noir, Existenzialismus und Woodstock stehen sie für eine postkoloniale Rückbesinnung auf eigene künstlerische Wurzeln. Diese liegen zum großen Teil in der traditionellen marokkanischen Musik des Malhoun und in der spirituellen Musik der Jilala, einer alten Sufi-Bruderschaft, von der sich ihr Gruppenname ableitet. Jil Jilala haben die populäre Musik des Maghreb politisiert und der Vorherrschaft der süßlichen Liebeslieder ein Ende gesetzt. Wenn der Regisseur Martin Scorsese Nass el Ghiwane als „Rolling Stones“ Afrikas bezeichnet, so sind Jil Jilala die “Beatles”.

Die Texte

Die Texte erzählen vom Frieden zwischen den Völker und Religionen. Sie handeln von einer Humanität, für die auch der 11. September und der folgende Irakkrieg keine Hindernisse sind. Davon, dass man sich begegnet, wenn man sich begegnen will und dass wir, ganz einfach betrachtet, Brüder und Schwestern sind. Einzelne Auszüge deuten die Tendenz der arabischen Texte an: “Make wars history”, ”The world is a mirror - show yourself in it - and it will reflect your image” sind einige der essentiellen Verse. Genau wie die Zeile “God gave you something better than magic - brain!“, die sich gegen religiösen Fanatismus richtet, egal, ob er sich bei den christlichen Neocons oder bei ihren moslemischen Pendants äußert.

Der neue Sound

Drei harte, rockige E-Gitarren und eine treibende Rhythmusgruppe erzeugen mysteriöse, metallische Atmosphären, aus denen verzerrt rufende arabische Stimmen auftauchen - eine Reminiszenz an die übersteuerten, aufgeregten Kriegsberichterstatter von Al Jazeera und CNN. Der packende Unisono-Chorgesang des Malhoun tut sein Übriges, um diese Emotionen wie in einem Brennspiegel zu bündeln. Die archaische Botschaft der Drehleiern verbindet wie in Trance die nördlichen und südlichen Küsten des Mittelmeers.

Kurze Reise durch die Tanger Sessions

Der Beginn ist eine majestätisch schreitende Hommage an Abdesalam Akaaboune, dem großen Förderer und Mäzen der marokkanischen Musikszene, der einst die Dissidenten mit der in Tanger lebenden Komponisten- und Schriftstellerlegende Paul Bowles bekannt machte und schon als Mitproduzent von Sahara Elektrik aufgetreten war. Mit ohrwurmhaften Drehleiern, Chören und vorwärtsdrängenden Gitarren kreist im Anschluss der „Morock’n’Roll“. Hart schwingt “Gun Factory” nach einem atmosphärischen und poetischen Intro als Anklage an die Kriegsprofiteure der Waffenindustrie. Das knackig-funkige „The World Is A Mirror“ vertont einen alten Leitsatz der Dissidenten, und durch Ostinato-Trance beschwört „Truth Is The Only Religion“ eine humanistische Welt. Nach sphärischem Flötenbeginn beschreibt „Song 4 A Rainbow“ mit melodischem Aufbäumen und rhythmischer Wucht hoffnungsvoll den Regenbogen, den alle Religionen, Rassen und Kulturen bilden. „Fata Morgana“ oszilliert mit neuer Pracht in der Sonne der Sahara, durch die musikalische Transformation vom Elektrischen zum Akustischen erscheint der Song als flirrende Oase im Zentrum der Tanger Sessions.

Neben den Dissidenten und Jil Jilala hat eine illustre Schar von Musikern mit Wohnsitzen zwischen Marrakesch und München, Casablanca und Berlin ihre Künste in den Dienst der Tanger Sessions gestellt:

Die Gitarren

Für das donnernde Saitengewitter sind gleich drei Gitarristen verantwortlich. Zunächst ist da ROMAN BUNKA, enger Freund seit den Zeiten von Embryo, jener anarchischen Keimzelle der Dissidenten in den 1970ern. Natürlich tut sich Bunka auf dem Album auch in seiner Eigenschaft als einer der besten Oud-Spieler Europas brillant hervor - kein Wunder, dass ihn der ägyptische Star Mohamed Mounir immer wieder als Begleiter auf seine Tourneen einlädt. Aus Hannover stammt eine Doppelspitze: JENS FISCHERs Name ist untrennbar verknüpft mit der „indo-germanischen“ Formation Tri Atma. Regisseur Robert Wilson urteilte über Fischer, er sei der „Philip Glass der Gitarre”. Ebenfalls aus der norddeutschen Metropole kommt HENNING RÜMENAPP, der bestens von seiner druckvollen Saitenarbeit bei den GUANO APES bekannt ist.

Die Drehleiern

Das trancehafte Element der Tanger Sessions wird getragen von den beiden Drehleiern. Die Dissidenten haben zwei „Spielleute“ gewonnen, die profunde Erfahrung in der Verschmelzung von Folklore und Futuristischem besitzen: ELKE ROGGE hat dies schon Anfang der 1990er als Frontfrau der stilbildenden Electrofolk-Formation Hölderlin-Express bewiesen und auch TILL UHLMANN, einer der Kreativköpfe hinter der Gebrüder-Band ulman, steuert die Geschicke des mittelalterlichen Instruments meisterlich in moderne Fahrwasser.

Vokale Verstärkung

Neben dem kehlig rauen Gesang von Jil Jilala wird die Vokalsektion um zwei weitere Stimmen aus Casablanca verstärkt: MENNANA ENNAOUIs Arasbesken verbinden marokkanischen Folk und Jazz gleichermaßen. Neben ihrer Arbeit mit den Dissidenten wurde sie auch als Vokalpartnerin von Toots Tielemans bekannt. NOUJOUM OUAZZA sang und spielte Mandolincello bei Lem Chaheb - deshalb schließt sich mit ihm der Kreis nach über einem Vierteljahrhundert Dissidenten-Historie.

Die Tanger Sessions sind die Tonspur eines neuen Realismus, die den Zeitgeist zwischen arabischer und westlicher Welt fühlbar macht. Hierfür steht auf dem Cover auch die Vereinigung von deutscher und marokkanischer Flagge mit ihrem zentralen Pentagramm – Sinnbild für den Bann des Bösen. Fernab von der Schönfärberei der „einen Welt“, wird in ihnen das rockig- animalische Erbe der 70er Jahre spürbar, das alle beteiligten Musiker verbindet. Diesen großen Bogen zurückschlagend werden die Dissidenten erneut Avantgardisten für eine “Welt”musik, die sich der Bürde der Globalisierung entgegenstellt. Der Zusammenprall der Kulturen, in seiner bestürzenden und beglückenden Ambivalenz – selten wurde er so eindrucksvoll in Töne gesetzt.

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