Paulo Moura & Os Batutas

PIXINGUINHA

EXIL 8361-2

LC 8972

VÖ: 23.7.1998

DISTRIBUTION: INDIGO

 

"Pixinguinha ist eine zentrale Figur für jeden brasilianischen Musiker, egal welchen Genres. Trotzdem hat er weder zu Lebzeiten noch seit seinem Tod die Wertschätzung erhalten, die ihm eigentlich zusteht", meint Paulo Moura. Ihm selber ist das Schicksal seines Lehrmeisters zum Glück erspart geblieben. Auch wenn er als Instrumentalist der Extraklasse natürlich nicht den Erfolg eines mittelmäßigen Sängers mit gutem Promotion-Apparat verzeichnen kann, wissen die brasilianische Musikszene und Fans auf der ganzen Welt sehr wohl, was sie an ihm haben.

Als einziger lebender Musiker unserer Tage kann der Ehrenbürger von Rio de Janeiro auf ein nach ihm benanntes Festival verweisen: das alljährlich über die Bühnen seiner Heimatstadt gehende Festival Internacional Paulo Moura. Einige der besten brasilianischen Musiker, z.B. Wagner Tiso oder Mauro Senise, sind durch seine Schule gegangen; und mit seiner Suite Carioca für Sinfonie-Orchester, Jazz-Combo und 150köpfigen Kinderchor eröffnete die UNO 1992 ihren Umwelt-Gipfel in Rio.

Daß der 1933 als Jüngster von zehn Geschwistern geborene Paulo Moura die Musikerlaufbahn einschlug, war alles andere als überraschend. Sein Vater, Chef eines Militärorchesters im Städtchen Sao José do Rio Preto unweit von Brasiliens Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, gab seine Fähigkeiten an den Nachwuchs weiter und gründete eine Familien-Band. In der hätte der 9jährige Paulo am liebsten Trompete gespielt, gebraucht wurde aber ein Klarinettist. Mit 12, inzwischen auch am Altsax einigermaßen versiert, hatte Paulo Moura seine ersten Auftritte mit der väterlichen Jazz-band. 1947 zog die Familie nach Rio, wo Moura eine formelle musikalische Ausbildung begann - mit dem Einstieg ins 4. Studienjahr. Und schon als 19jähriger debütierte er als Solist bei Brasiliens Nationalem Sinfonie-Orchester mit Carl Maria von Webers Konzert für Klarinette und Orchester.

Über 15 Jahre lang war Moura 1. Klarinettist im Orchester des Teatro Municipal in Rio und erlangte schnell Berühmtheit mit seiner (nur durch Zirkularatmung möglichen) Klarinetten-Version von Paganinis Moto Perpétuo, das 1956 auch Mouras erster Platte den Namen gab.

Wären viele Musiker schon glücklich, in der Klassik wie Paulo Moura Karriere zu machen, so gab sich dieser nicht damit zufrieden. Abgesehen davon, daß er sich bis auf den heutigen Tag hin und wieder als Film-schauspieler betätigt, hat er auch die MPB, die Música Popular Brasileira, nie vernachlässigt, so daß er nicht nur den Kritikerpreis als bester brasil-ianischer Klassik-Musiker erhielt, sondern auch zum besten Pop-Instrumentalisten gekürt wurde.

Zur Blütezeit der Bossa Nova spielte Paulo Moura als Mitglied von Sergio Mendes` Bossa Rio Sextett 1962 in der New Yorker Carnegie Hall, wo der Saxophonist Cannonball Adderley die Band hörte und mit ihr einer der schönsten Bossa Nova-Platten überhaupt einspielte. Der von Tom Jobim & Kollegen kreierte Stil aber war (sowohl die Macher als auch ihr Publikum betreffend) eine ausgesprochen weiße Spielart brasilianischer Pop-Musik; und Paulo Moura fühlte sich stets mehr zu den Klängen seiner farbigen Landsleute hingezogen, besonders zum Choro, als dessen führender Interpret er heute zu Recht gilt.

Die Entstehung des Choro in Rio de Janeiro fällt ins späte 19. Jahrhundert, parallel zur Geburt von Ragtime und Jazz in einer anderen amerikanischen Hafenmetropole: New Orleans. Und an beiden Orten waren es schwarze Künstler aus den unteren sozialen Schichten, die eine von Improvisation geprägte Instrumentalmusik schufen.

Wenn auch der Choro nicht eine solche Entwicklung nahm wie der Jazz und niemals dessen (zeitweilige) Popularität erlangte, so hat er sich über mehr als 100 Jahre als konstante Größe in der brasilianischen Musik er-wiesen und praktisch alle Stile der MPB sowohl künstlerisch als auch per-sonell mitgeprägt. Die musikalische Struktur des Choro ist dabei ver-gleichsweise einfach. In der klassischen Form (Ausnahmen bestätigen die Regel) gibt es drei 16-taktige Abschnitte in der Folge AA BB A CC A. Verwandte Dur- und Moll-Tonarten wechseln sich dabei ab, den Solisten bleibt viel Freiraum zur Improvisation.

Sucht man nach einer Figur, die für den Choro ähnliches bedeutet wie Louis Armstrong für den Jazz, stößt man unweigerlich auf Alfredo da Rocha Viana Filho alias Pixinguinha. Wie der Trompeter aus New Orleans hat er die von ihm gewählte Musikform zwar nicht geschaffen, ihr aber für alle Zeiten seinen Stempel aufgedrückt. Der brillante Flötist etablierte das Saxophon in der brasilianischen Musik und schrieb etwa 600 Choros, von denen viele zu Klassikern werden sollten. Vielleicht noch wichtiger war seine Arbeit als Bandleader und Arrangeur. Die tradtionelle Choro-Besetz-ung mit zwei Gitarren, Cavaquinho (eine Art Ukulele) und Flöte erweiterte er um Saxophone, Trompeten und andere Blasinstrumente sowie eine Perkussion-Gruppe. Und in den 20er Jahren, als Louis Armstrong mit seinen Hot Five und Hot Seven den Jazz revolutionierte durch die Einführung des improvisierenden Solisten, der komplett neue Melodien spielte anstatt lediglich das Thema leicht zu variieren, etablierte Pixinguinha den Kontrapunkt als Basis für Choro-Kompositionen und -Improvisationen.

Das Ensemble, mit dem Pixinguinha den Choro erneuerte, war das 1919 gegründete Oktett Oito Batutas (zu deutsch etwa Die Fantastischen Acht). Als die Band 1922 nach Paris eingeladen wurde und nur 7 Musiker für einen längeren Übersee-Aufenthalt frei waren, wurde der Name ins zahlenneutrale Os Batutas geändert. 1930 löste Pixinguinha die Gruppe auf und konzentrierte sich im wesentlichen auf seine neue Karriere als Komponist und Arrangeur für Studio-Projekte. Knapp 20 Jahre später begegnete er bei Rundfunk-Aufnahmen dem Teenager Paulo Moura, mit dem er in der Folgezeit immer wieder zusammenarbeiten sollte, bis er am 17. Februar 1973 unter dramatischen Umständen an Herzversagen starb, als er in einer Kirche in Ipanema darauf wartete, Patenonkel zu werden.

Von Kollegen und Freunden wie ein Heiliger verehrt, mangelte es Pixinguinha doch sowohl an Wertschätzung beim breiten Publikum als auch an finanziellem Erfolg (das Thema Tantiemen ist hier, wie in fast allen Bereichen schwarzer Musik, ein besonders trauriges Kapitel). "Ich habe mit einigen Freunden den Verein Casa de Pixinguinha gegründet", erzählt Paulo Moura. "Wir wollen unter anderem das Haus erwerben, in dem er lange lebte und das er notgedrungen verkaufen mußte. Dort wollen wir ihm zu Ehren ein Museum einrichten."

In diese Aktivitäten ordnet sich auch die vorliegende CD ein, für die Paulo Moura unter dem legendären Namen Os Batutas einige der besten Choro-Interpreten vereint, allen voran Mandolinen-Virtuose Joel do Nascimento und Star-Posaunist Zé da Velha, beide langjährige Kollegen des Leaders. Die CD, live aufgenommen im Teatro Carlos Gomes von Rio de Janeiro als Teil der Pixinguinha-Ehrungen anläßlich seines 100. Geburtstages, präsentiert Kompositionen des Choro-Altmeisters und andere Stücke aus seinem Repertoire, angereichert mit Samba-Elementen.

Das Material besteht im wesentlichen aus Uptempo-Stücken, in denen sich Klarinette, Posaune und Mandoline die Solo-Improvisationen teilen, wie z.B. Oito Batutas (10) von Pixinguinha oder, von seinem Gitarristen Ernesto dos Santos alias Donga, Pelo Telefone, (11) der Karnevals-Hit von 1916, der nicht nur als erster Song unter der Genre-Bezeichnung "Samba" registriert, sondern bereits im gleichen Jahr auch auf eine Tonwalze aufgenommen wurde. Ein besonderer Leckerbissen ist Mistura E Manda (8), nur von Kla-rinette und Perkussion bestritten, mit einem großartigen Pandeiro-Solo von Armando Marcal, einem der gefragtesten brasilianischen Perkussionisten.

Wann immer Pixinguinha mit einer musikalischen Leistung besonders zufrieden war, lachte er und verkündete: "Esta merece uma bebida!" (Das verdient einen Drink !). Pixinguinha, die CD, verdient garantiert einen solchen. Darauf einen Caipirinha!

 

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